Vegesacker
Fischerei
Am 14. Dezember 1893 erschien in der Norddeutschen Volks-Zeitung in Vegesack ein Artikel, der folgendermaßen begann: „Die Unterzeichneten möchten ihr Interesse für ein Unternehmen erwecken, welches für die hiesige Gegend von großer Bedeutung werden kann, sobald sich patriotische und thatkräftige Männer finden, es in die Hand zu nehmen. Wir meinen die Gründung einer Fischerei-Actien-Gesellschaft. Durch die Correction der Weser ist Vegesack genau so gut mit dem Meere verbunden worden wie Bremen, die Schiffe können mit der Fluth oder einer Ebbe die See oder den Hafen hier erreichen. Die Hafenanlagen in Vegesack bieten genügend Platz für eine kleine Flotte hiesiger Fischerfahrzeuge, und die Bevölkerung dieser Gegend würde sich bald wieder, wie in früheren Jahren , dem Seeberufe zuwenden, wenn ihr dazu Gelegenheit in unmittelbarer Nähe geboten wird. Die vielen in beheimateter Gegend liegenden Fabriken geben vorzugsweise Frauen und Mädchen Beschäftigung, für die Männer wäre es sehr erwünscht, wenn mehr Arbeitsgelegenheit vorhanden wäre. Wir erinnern nur an die vielen Kahn- und Flußschiffer, die durch die Dampfschleppschiffahrt abkömmlich geworden sind und an die vielen Schiffszimmeerleute.“
Tatsächlich konnten die „Herren aus Vegesack“ genügend Aktionäre aus Bremen und Vegesack finden: Die Bremen-Vegesacker Fischerei-Gesellschaft wurde am 31. Januar 1895 gegründet. Aus der von den Gründern angestrebten „kleinen Flotte hiesiger Fischerfahrzeuge“ ist im Laufe der Jahre die größte Heringsfischerei-Gesellschaft des Kontinents geworden. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung -1938- beschäftigte das Unternehmen 1.200 Besatzungsmitglieder und 490 Arbeitskräfte im Landbetrieb. Die Gesellschaft hatte 68 Logger im Dienst, die Betriebsanlagen an der Lesummündung mußten mehrfach erweitert werden.
Man muß sich das damalige Gelände mit Hallen und Heringsfässern überfüllt vorstellen. Wenn man jetzt über das alte Lürssen-Gelände schlendert, sieht man noch ein weißes längliches Gebäude gegenüber dem Schulschiff. Es ist ein letzter Zeuge der vielen Hallen, die früher dort standen und zur Heringsfischerei-Gesellschaft gehörten, ganz zu schweigen von den vielen Schornsteinen, die damals ebenfalls das Grundstück prägten.
Eine ganze Flotte von Loggern lag an der Pier, wo jetzt das alte Schulschiff liegt. Drei Schiffe lagen nebeneinander und fünf oder sechs Schiffe lagen wiederum im Päckchen hintereinander. Ein ständig an- und ablegender Mastenwald befand sich an der Lesummündung, neben dem sich Pyramiden von Heringsfässern stapelten. An dem alten Speicher, der jetzt noch einsam und verlassen auf der Lürssen-Brache steht und gerade restauriert wird, floß damals noch die alte Aue entlang von Schönebeck kommend in die Weser. Es war die „Grenze“ zwischen der alten Lürssen-Werft und der Fischereigesellschaft. Nach und nach wurde aber die schmale Aue zugekippt, um auch dieses Fleckchen Erde zu bebauen.
In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts galt der Salzhering in Deutschland als Volksnahrungsmittel. Ein Drittel des gesamten europäischen Heringsfanges ging nach Deutschland. Wegen der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung hat das Reich den Betrieb der Fischerei-Gesellschaft immer wieder finanziell gefördert. Die Heringe wurden in Fässern, den sogenannten „Kantjes“, eingesalzen und in den Handel gegeben. Das Heringsfaß stand in den fünfziger Jahren in fast jedem Laden. Als sich im Einzelhandel Selbstbedienungsläden und Supermärkte ausbreiteten, mußte sich auch der Heringsvertrieb ändern. 1961 wurde deshalb die Vegesacker Fischwaren GmbH gegründet, um Halbfertig- und Fertigwaren zu erzeugen.
Ab 1960 gingen die Fangergebnisse drastisch zurück. Die Nordsee war durch Hunderte von Fischdampfern überfischt, die Heringsbestände konnten sich nicht mehr regenerieren. Die Vegesacker Gesellschaft fusionierte mit der Norddeutschen Hochseefischerei AG in Bremerhaven und 1967 wurde die Loggerflotte von Vegesack nach Bremerhaven verlegt. Schon zwei Jahre später mußte der Betrieb vollständig eingestellt werden. Die Vegesacker Fischwaren GmbH verarbeitete bis in die Mitte der achtziger Jahre weiterhin importierte Heringe.
Natürlich standen frische Heringe in Vegesack „und umzu“ bei jeder Gelegenheit auf dem Speisezettel. Das „Vegesacker Heringsessen“, bei dem der Hering in acht bis zehn verschiedenen Zubereitungsformen auf den Tisch kommt, gilt heute noch als Delikatesse und örtliche Spezialität nördlich der Lesum.
Erwähnen muß ich aber noch, daß auf diesem Grundstück im Jahre 1805 der Schiffbaumeister Johann Lange (siehe gleichnamige Straße bei der Kfz-Zulassungsstelle in Vegesack) seine Werft gründete. 1817 baute er eines der ersten deutschen Dampfschiffe „Die Weser“. Hier wurde im Jahre 1893 der Bremer Vulkan gegründet, der dann zu seinem jetzigen Standort umsiedelte und mit der Ullrichs Werft fusionierte. Schon zwei Jahre später entstand dann die Bremen-Vegesacker Fischerei-Gesellschaft.
von Armin Seedorf